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Presse

Tachles  (Jüdisches Wochenmagazin) Nr. 35 / 28. August 2020

Yvonne Bollag

Der Blick nach Weissrussland

Die Bilder der Proteste vor und nach den Wahlen in Weissrussland gingen um die Welt. Neugierig, aber auch sehr besorgt, öffne ich die morgendliche Zeitung. Wieder sind die neusten Nachrichten über Weissrussland, wenn nicht auf der Frontseite, dann auf den vordersten Seiten zu finden. Und dies schon  seit fast zwei Wochen. Es ist eine gewöhnungsbedürftige Tatsache, dieses Land im Fokus der weltweiten Medien zu sehen. Minsk kenne ich seit vielen Jahren durch unzählige Besuche. Ich betrachte die Zeitungsbeiträge und weiss, wo die Bilder aufgenommen wurden. Ich bin in den letzten Jahren meist im Herbst für Aktionsgemeinschaft für die Juden in Weissrussland (ajs) zusammen mit einer Kollegin aus dem Vorstand dort gewesen, um unsere Hilfsprojekte zu besuchen und die Mitarbeitenden unserer Partnerorganisationen zu treffen. Die Reise nach Weissrussland war stets ein Höhepunkt in unserem Jahreskalender. Doch dieses Jahr werden die Reise und all die Treffen mit den Freunden nicht nicht möglich sein. Da helfen auch Telefonate und E-mails nicht wirklich. In Weissrussland kann nur vor Ort offen über Projekte gesprochen werden. Der persönliche Kontakt war mir immer sehr wichtig und unseren belarussischen Partnern ebenso. Ein Besuch wird daher jedes Jahr sehnsüchtig erwartet. Bis jetzt war es für uns als Vertreterinnen einer humanitären Organisation und auf Einladung unserer Freunde nie schwierig, ein Visum für Weissrussland zu erhalten. Mittlerweile braucht man aus der Schweiz für einen kurzen Aufenthalt nicht mal mehr ein solches. Ich konnte mich stets frei bewegen und alle Orte, welche ich ausserhalb unseres festgelegten Programms zusätzlich sehen wollte, besuchen.

 

Es ist in Belarus nicht möglich, mit der älteren jüdischen Bevölkerung zusammen zu sein oder kleine jüdische Gemeinden zu besuchen, ohne auf die Vergangenheit zu stossen und über die Geschichte zu sprechen. Im Reiseführer zu Weissrussland wird praktisch keine Stadt oder grössere Ortschaft beschrieben, ohne dass auch ein Abschnitt dem jüdischen Erbe gewidmet ist. Nicht selten war vor der Schoah in kleinen Dörfern fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch.

 

Leider kämpfen die wenigen heute übrig gebliebenen kleinen jüdischen Gemeinden um ihre Existenz. Die jungen Menschen ziehen in die Hauptstadt oder ins Ausland, die Alten sterben langsam weg. Somit fallen auch immer mehr Kleingemeinden durch das Netz, wenn es um deren weiterhin dringend benötigte Unterstützung  geht. Da kann auch die ajs mit ihren Spenden zu wenig  bewirken, da noch andere Kriterien im Spiel sind.

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«In Weissrussland kann nur vor Ort offen über Projekte gesprochen werden»

 

Oft hängt das aktive Gemeindeleben vom Engagement der dortigen Präsidentin (nicht wenige Kleingemeinden werden von Frauen präsidiert) oder des Präsidenten ab. Ich erinnere mich mit Freude an die Besuche in Brest, Sluck, Salihorsk und Baranavicy, um nur einige zu nennen. Sie alle haben ein gut funktionierendes Gemeindeleben mit verschiedensten Aktivitäten zu Schabbat und den Feiertagen. Die dortigen Gemeindezentren sind oft in den Kellerräumen von grossen Wohnblocks untergebracht. Bessere Räumlichkeiten sind schlicht viel zu teuer. Trotzdem sind sie mit viel Liebe so wohnlich wie möglich hergerichtet. Jeder Besuch  hinterlässt bei uns von neuem ein ergreifendes Gefühl. Überhaupt: Aus jüdischer Sicht, geschichtlich, kulturell, religiös usw. präsentiert sich Belarus als eine unerschöpfliche  Fundgrube.

 

Unvergessen bleibt mir der Besuch in Mir, wo bis zum Zweiten Weltkrieg die gleichnamige weltberühmte Jeschiwa stand. Sie war nach Valozyn (ca.100km nördlich von Mir gelegen) die zweitgrösste Jeschiwa im Land. Ihre Schüler kamen von überall her. Das Gebäude steht zwar noch, beherbergt heute aber eine Post. Es wohnen keine Juden mehr im Ort. Drei ehemalige Synagogengebäude sind aber noch deutlich zu erkennen. Später wurden sie zu Wohnhäusern umgebaut. Wenn man an so einem Ort seiner Fantasie freien Lauf lässt, so ist kaum schwer, sich das ehemalige Stetl lebhaft vorstellen, wie es der wohl berühmteste weissrussische Künstler Marc Chagall so treffend auf seinen Bildern dargestellt hat. Die meisten Häuser auf dem Land sehen heute, 100 Jahre später, genauso wie auf Chagalls Bildern aus. Als ob die Zeit dort stehengeblieben wäre. Doch politisch ist sie es nicht uns hat zur angespannten Situation geführt, wie sie täglich in den Medien abgebildet wird.

 

In diesen Wochen stehen wir nur bedingt mit unseren Freunden und den Hilfsbedürftigen in Kontakt. Doch die meisten unserer Projekte scheinen weiterzulaufen, das beruhigt immerhin etwas. Hoffentlich können wir irgendwann wieder eine nächste Reise nach Minsk planen und alle wiedersehen.

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